Alfa Romeo 75 und Giulia: Die letzten ihrer Art

Italien Anfang der 1980er-Jahre: Eros Ramazotti schluchzt sich erstmals in die Charts, fast jeder zehnte Italiener hat keinen Job und die Staatsverschuldung liegt bei 90 Prozent. Harte Zeiten, auch für Alfa Romeo.

Die finanziellen Mittel des Staatsbetriebs schmelzen fast so schnell dahin wie der Rost an den Autos nagt. Qualitätsmängel lassen die Verkaufszahlen in den Keller rauschen. Und dann steht da 1985 auch noch der 75. Geburtstag der Traditionsmarke an. Den will man natürlich gebührend feiern, bevor Alfa Romeo 1986 von Fiat übernommen werden soll. Passenderweise bekommt die zum Jahrestag neu entwickelte Limousine den Namen 75. Sie soll die betagten Modelle Giulia sowie Giulietta beerben und nochmals zeigen, was Alfa technisch und optisch draufhat. Denn in der Konzernzentrale in Arese ist allen klar: Unter den Fittichen von Fiat ist Schluss mit technischen Extravaganzen. Dann müssen sich die Alfisti mit Frontantrieb und großserientauglichem Einheitsbrei anfreunden.

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Der letzte echte Alfa Romeo

Und so gilt der 75 bei den Fans der Marke als letzter echter Alfa Romeo. Entwickelt und gebaut in Arese, mit allem, was die Marke ausmacht: Heckantrieb, einem Transaxle-Getriebe an der Hinterachse, das für die optimale Gewichtsverteilung von 50:50 sorgt, sowie potenten und kernig klingenden Motoren. Eckig, kantig, keilförmig: Designer Ermanno Cressoni entwirft eine viertürige Limousine, die ganz dem Zeitgeist der 80er-Jahre entspricht.

Und mit einem kuriosen Motoren-Setup, zumindest in Italien. Denn seit einigen Jahren hält der italienische Fiskus bei Autos mit mehr als zwei Litern Hubraum die Hand weit auf und kassiert eine Sondersteuer. Als absurde Folge werden in Italien kleine, potente Turbomotoren der Hit. Selbst Maserati oder Ferrari setzen aufs Downsizing. Parallel werden klassische Sechs- und Achtzylinder-Saugmotoren produziert, aber hauptsächlich für den Export. Auch der 75 läuft bald nach dem Start in zwei Versionen vom Band: als Quadrifoglio Verde mit einem 115 kW/156 PS starken 2.5 V6 sowie einem nahezu gleich starken 1,8-Liter-Turbo.

Und heute? Seit 2021 gehört Alfa Romeo zu Stellantis und kämpft unter der budgetgetriebenen Mutter um ihre Identität. Jetzt ist es die noch unter der FCA-Oberhand entstandene Giulia, welche die Fans der Marke neben dem SUV Stelvio als letzten echten Alfa bezeichnen. Mehrfach facegeliftet und technisch überarbeitet, rettete sich die 2016 vorgestellte Sport-Limousine bis ins Jahr 2025. Doch die Verkäufe dümpeln auf niedrigem Niveau, längst wird die Giulia von neuen, günstigeren Modellen wie dem Tonale oder dem auch mit Elektroantrieb erhältlichem Junior abgehängt.

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Der Alfa-Geist früher und heute

Wie aber sieht er aus, dieser Alfa-Geist, wie fühlt es sich an, dieses Alfa-Feeling, von dem die Fans der Marke so schwärmen? Sitzprobe in einem 75 aus dem Jahr 1987. Damals war der 4,33 Meter lange und 1,63 Meter breite 75 eine ausgewachsene Mittelklasse-Limousine. Heute wirkt er wie ein Spielzeug: Ein aktueller VW Golf ist nur ein paar Zentimeter kürzer und sogar gut 20 Zentimeter breiter.

Seine Türgriffe mit fingernagelmordenden Druckknöpfen waren der letzte Schrei, ebenso wie die flauschigen, mausgrauen Veloursitze oder die Plastiklandschaft mit eckigen Instrumenten, knarz enden Kippschaltern und jeder Menge Lämpchen.

Irgendwann hat sein Besitzer ein damals obligatorisches Sportlenkrad mit Metallspeichen nachgerüstet und massige Kenwood-Lautsprecher auf der Hutablage montiert. Je mehr Blingbling, desto besser. Auch der 75er überwacht alles: Im Cockpit gibt’s extra Anzeigen für Öldruck und Wassertemperatur, während in der Mitte des Armaturenbretts das „Control“-Center mit Leuchtdioden auf fehlendes Spritzwasser, verschlissene Bremsbeläge, offene Türen, kaputte Bremsleuchten oder fehlendes Motoröl hinweist.

Der Kilometerzähler steht bei unfassbaren 247.256. Aber die Fans wissen: Alfa-Motoren lohnen stetige Pflege und regelmäßige Ölwechsel mit langer Laufleistung. Die 1,6-Liter-Maschine dieses Exemplars war zudem echt fortschrittlich: Die findigen Ingenieure verzichteten auf die damals aufkommende, aber aufwendige Vierventiltechnik und setzten auf zwei Zündkerzen pro Zylinder. Die Twin-Spark-Technik soll das Kraftstoff-Luft-Gemischs schneller, vollständiger und effizienter verbrennen lassen, die Leistung steigern und den Verbrauch senken. Und weil der 75 auch schon eine Einspritzung anstatt der damals noch durchaus üblichen Vergaser hatte, springt er auch heute sofort an.

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Der macht richtig Laune!

Also nix wie raus auf die Straße, wo wir den Vierzylinder sanft warm fahren. Obwohl das Transaxle-Getriebe hinten an der Achse sitzt und über Gestänge, Hebel und Gelenke angesteuert wird, lassen sich die Gänge erstaunlich leicht wechseln. Noch besser flutschen sie mit ein bisschen Zwischengas beim Zurückschalten.

Der 75 ist zudem mit einer aufwendigen De-Dion-Hinterachse ausgestattet. Damit bleiben Sturz und Spur der Räder beim Einfedern konstant, was eine bessere Traktion bringt. Weil das Differential fest mit dem Chassis verbunden ist, werden zudem die ungefederten Massen reduziert.

Alora, andiamo presto um die nächsten Kurven. Macht richtig Laune. Der gerade mal rund 1.100 Kilo leichte Wagen liegt erstaunlich gut und wieselt leichtfüßig ums Eck. War wohl eine gute Idee der Ingenieure, möglichst alles Gewicht und damit den Schwerpunkt des Autos nach unten zu verlegen. Und in die Mitte: Die hinteren Scheibenbremsen sind am Getriebe angedockt: Top fürs Handling, schlecht für den Geldbeutel, da der Tausch von Belägen und Scheiben super aufwendig ist.

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Die Giulia ist nur noch als Diesel erhältlich

Szenenwechsel und Umsteigen in die noch aktuelle Alfa Giulia. Zwischen dem 75 und der 2016 aufgelegten Giulia liegen gut 40, gefühlt aber Lichtjahre. Doch die Passion der Italiener, Fahren als Leidenschaft und nicht als Mittel zum Zweck vermitteln zu wollen, ist auch hier spürbar. Natürlich geht die aktuelle Giulia mit der Zeit, hat beim letzten Facelift sogar ihre Analoginstrumente gegen ein Digitalcockpit ausgetauscht. Auch hier ist Tatschen und Swipen mittlerweile angesagt, aber eben in Maßen. Die Giulia von 2016 hat zugelegt, ist größer, schwerer und vielleicht sogar etwas behäbiger geworden. Aber das Wichtigste stellt sich schon nach den ersten Metern ein: Die Freude, einen Alfa zu fahren.

Wer das erleben will, muss sich aber beeilen. Die 520 PS starke Giulia Quadrifoglio ist bereits Geschichte und eben erst wurde die Produktion der restlichen Benziner eingestellt. Nur die Diesel sollen noch eine Weile gebaut werden. Irgendwie anachronistisch in einer Zeit, die Alfa Romeo zwingt, voll auf die Elektromobilität zu setzen. Aber Mainstream war in Arese noch nie angesagt. (Text: hb/sp-x | Bilder: Hersteller)

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